Ich bin nicht „zu“ introvertiert – und du auch nicht!

von | Feb 13, 2023 | selbstbewusst introvertiert | 2 Kommentare

Früher, als ich noch im Café gearbeitet habe, gab es diese Tage. Tage, an denen ich am liebsten mit niemandem reden wollte.

Wenn Kund*innen reinkamen, gab ich mir Mühe. Ich wollte offen und herzlich auf sie zugehen. Aber es hat mich furchtbar viel Kraft gekostet und da war immer dieses Gefühl, nicht genug zu sein. Nicht schnell oder schlagfertig oder freundlich oder sympathisch genug.

Und dazu der Gedanke: „Ich bin zu introvertiert.“

Zu introvertiert für diesen Job, aber auch für andere Dinge, die ich mir wünschte oder für wünschenswert hielt. Dieser Gedanke hat mich eine ganze Weile begleitet.

Inzwischen ist das schon einige Jahre her. Meine Introvertiertheit sehe ich jetzt viel positiver. Sie ist ein Wesensmerkmal, etwas, das zu mir gehört und gut so ist. Damals, in der Cafézeit, hatte ich eine Erkenntnis, ohne die das nicht möglich gewesen wäre.

Distanz zu den eigenen Gedanken

Ich konnte damals schlecht einschlafen. Wenn ich mich ins Bett legte, fuhren die Gedanken in meinem Kopf Karussell. Deshalb beschloss ich, an einem Achtsamkeitskurs teilzunehmen. Die Dozentin war Katrin Röntgen, und bei ihr im Kurs lernte ich eine Übung kennen. Sie hieß „Ich muss nicht alles glauben, was ich denke“.

Der Titel sprach mich gleich an! In der Übung geht es darum, Distanz zu den eigenen Gedanken zu gewinnen.

Das war eine ungewohnte Vorstellung für mich. Normalerweise nehme ich meine Gedanken ziemlich ernst 😉 Aber es machte mich auch neugierig.

„Ich muss nicht alles glauben, was ich denke“ – die Übung

Für die Übung sucht man sich einen Gedanken aus, den man immer wieder hat. Einen alten Vertrauten sozusagen.

Falls Du die Übung nachmachen möchtest, achte an dieser Stelle bitte gut auf Dich: nimm einen Gedanken, den Du entspannt denken kannst, ohne dass er Dich zu tief berührt. Das darf  ruhig etwas kleines, alltägliches sein. Im Verlauf der Übung wirst Du den Gedanken viele Male denken.

Für mich war der Gedanke aus dem Café perfekt: ich hatte ihn immer wieder in ähnlichen Situationen. Er ärgerte mich, berührte mich aber nicht zu sehr. Irgendwie gehörte er zu meiner Normalität, und ich fing an, ihn in Frage zu stellen.

Das war der Moment, um ihn mir genauer anzuschauen!

1. Den Gedanken denken und spüren

Als erstes richteten wir uns einen gemütlichen Platz ein. Eine angenehme Position im Sitzen oder Liegen, mit Kissen, Decken und ohne Ablenkungen. So, dass wir uns ganz auf die Übung konzentrieren konnten.

Dann nahmen wir den Gedanken, den wir uns ausgesucht hatten, und wiederholten ihn innerlich, nur für uns, drei Mal.

„Ich bin zu introvertiert.“
„Ich bin zu introvertiert.“
„Ich bin zu introvertiert.“

2. Erkennen, dass es ein Gedanke ist

Als nächstes erweiterten wir ihn: „Ich habe den Gedanken, dass…“

Auch diese Version dachten wir drei Mal vor uns hin.

„Ich habe den Gedanken, dass ich zu introvertiert bin.“
„Ich habe den Gedanken, dass ich zu introvertiert bin.“
„Ich habe den Gedanken, dass ich zu introvertiert bin.“

3. Den Gedanken bemerken

Im dritten Schritt setzen wir noch etwas davor: „Ich bemerke, dass ich den Gedanken habe, dass…“ 

Auch diesen neuen Satz wiederholten wir in Gedanken, drei Mal.

„Ich bemerke, dass ich den Gedanken habe, dass ich zu introvertiert bin.“
„Ich bemerke, dass ich den Gedanken habe, dass ich zu introvertiert bin.“
„Ich bemerke, dass ich den Gedanken habe, dass ich zu introvertiert bin.“

4. Nachspüren

Dann sollten wir nachspüren, ob sich an unserem Satz irgendetwas verändert hatte. Und tatsächlich, ich merkte jetzt, dass sich das „zu“ verflüchtigt hatte. Es war weg!

Aus meinem Satz war geworden: „Ich bin heute introvertiert.“

Das fühlte sich schon ganz anders an. Da war keine Wertung mehr. Heute war einfach ein Tag, an dem ich besonders viel Ruhe brauchte.

Wenn Du Dich schon mit Introversion beschäftigt hast, wirst Du jetzt vielleicht sagen, dass Introversion eine bleibende Eigenschaft ist. Keine Stimmung, Laune oder Tagesform. Das stimmt, aber ich konnte es damals noch nicht besser ausdrücken. Der entscheidende Schritt war, dass ich mich von dem einengenden und vorwurfsvollen Wörtchen „zu“ befreit hatte.

Die Befreiung vom Wörtchen „zu“

Ich konnte spüren, dass meine Komfortzone von Tag zu Tag unterschiedlich war. Manchmal freute ich mich über den Trubel im Café und hatte Spaß daran, die Gäste zu bedienen. Und manchmal war mir alles zu viel.

Mit dem alten Satz, „ich bin zu introvertiert,“ hatte ich mich an solchen Tagen grundsätzlich in Frage gestellt.

Mit dem neuen Satz, „ich bin heute introvertiert,“ stellte ich einfach fest, dass ich gerade Ruhe brauchte. Da war ein Arbeitstag im Café natürlich ungünstig. Aber ich konnte ihn jetzt besser aushalten, nachsichtiger und mitfühlender mit mir selber sein.

Ich war tatsächlich zu meinem Gedanken auf Distanz gegangen. Hatte erkannt, dass es „nur“ ein Gedanke war, und dass ich mich entscheiden konnte, mich anders zu sehen.

Es ist nur ein kleines Wort, das ich seitdem weglasse, aber es hat mir eine große Befreiung gebracht. Denn ohne das „zu“ kann ich sein, wie ich eben bin: introvertiert.

Was Wörter doch für eine Kraft haben! Findest du nicht?

Von welchem „zu“ würdest du dich gerne befreien? Schreib es mir als Kommentar, wenn du magst.

Alles Liebe
deine Paula

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2 Kommentare

  1. Wiebke

    Vielen Dank für diesen augenöffnenden Artikel! Den Gedanken „Ich bin zu introvertiert“ kenne ich von mir auch. Die Übung dazu probiere ich aus!
    Liebe Grüße
    Wiebke

    Antworten
    • Paula

      Liebe Wiebke,
      danke für dein Feedback! Bin gespannt, wie dir die Übung beim Ausprobieren gefällt 🙂
      Liebe Grüße
      Paula

      Antworten

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