Dieser Artikel ist in Anlehnung an die 11. Folge des Herz & Zunge Podcasts entstanden, den ich gemeinsam mit Lena Bodenstedt hoste.
Stammtischparolen sind Aussagen, die uns erstmal sprachlos machen. Grobe Verallgemeinerungen und provokante Thesen, die man sich auch gut in einer Stammtischrunde in der Kneipe vorstellen könnte.
Weil es so schwierig ist, darauf spontan eine Antwort zu finden, haben Lena und ich dem Thema eine Podcastfolge gewidmet. Hier kommst du direkt zur Folge, falls du nicht nur lesen, sondern auch hören willst.
Was sind Stammtischparolen?
Stammtischparolen kommen natürlich nicht nur am Stammtisch vor. Im Grunde können sie überall auftauchen, wo Menschen zusammenkommen – auf Familienfeiern, bei der Arbeit oder in der Schlange beim Einkaufen.
Für die Folge haben Lena und ich uns drei Beispiele überlegt:
- „Frauen können keinen Fußball spielen.“
- „Wir sind doch hier nicht das Sozialamt der Welt.“
- „Sie gehören doch auch zu denen, die schon von der Lügenpresse verseucht sind.“
Diese drei Sätze haben einiges gemeinsam:
- Sie arbeiten mit dem Denkmuster „wir gegen die anderen“. Damit kann eigentlich jede Gruppe gemeint sein, von der sich jemand negativ abgrenzen will (z. B. Politiker*innen als „die da oben“ oder Geflüchtete als „die da draußen“).
- Sie verallgemeinern sehr stark. Alle Angehörigen dieser Gruppe sind angeblich gleich.
- Wer so einen Satz sagt, beansprucht die absolute Deutungshoheit. So ist es (angeblich) und nicht anders. Basta.
Der Moment der Stille
Die Wirkung solcher Sätze hast Du vielleicht selber schon einmal gespürt: im ersten Moment ist man sprachlos. Überrascht, schockiert und, ja, irgendwie blockiert.
Was sage ich denn jetzt? Ist das wirklich ernst gemeint? Wie kann es sein, dass niemand von den anderen etwas sagt?
Das Problem ist: den anderen könnte es ganz ähnlich gehen wie Dir. Auch sie sind im ersten Augenblick sprachlos. Bleiben alle in der Sprachlosigkeit, kann die Stammtischparole unwidersprochen stehen bleiben. Das wirkt dann so, als wären alle einverstanden. Ein falsches Signal – sowohl für die Person, die die Stammtischparole geäußert hat, als auch für diejenigen, die sie betrifft.
Verlust der Sprachfähigkeit
Die Sprechwissenschaftlerin Annette Lepschy bezeichnet diesen Zustand als rhetorische Aphasie. Aphasie ist eigentlich ein medizinischer Fachbegriff. So nennt man einen Verlust der Sprachfähigkeit – zum Beispiel nach einem Unfall oder Schlaganfall.
Bei den Stammtischparolen geht es natürlich nicht um eine Aphasie im medizinischen Sinn. Darauf weist Annette Lepschy auch hin, sie verwendet den Begriff im übertragenen Sinne: in diesem ersten Moment des Schocks sind wir nicht mehr sprachfähig. Wir sind nicht einverstanden, würden gerne etwas sagen, aber irgendwie tun wir es nicht.
Notfallkit gegen Schockstarre
Die rhetorische Aphasie ist eine Denk- und Sprechblockade. Da müssen wir als allererstes raus, wenn wir einen sinnvollen Umgang mit der Situation finden wollen.
Das heißt aber nicht, dass wir sofort richtig gute Gegenargumente finden müssen. Oft ist das nämlich genau das, was uns blockiert – eben waren wir noch ganz entspannt, und jetzt müssen wir plötzlich begründen, warum wir nicht „das Sozialamt der Welt“ sind? Puh! Wie soll das denn gehen?!
Stattdessen kannst Du erstmal sagen: „Das sehe ich anders.“
Das reicht schon. Du musst nicht unbedingt Argumente folgen lassen. Dieser kurze Satz reicht schon aus, um die Dynamik der Sprachlosigkeit zu durchbrechen, denn die provokante Aussage bleibt nicht einfach so im Raum stehen.
Diskussionsstrategien
Der Satz hilft Dir aber auch, wenn Du weiter darüber sprechen willst. Er verschafft Dir Zeit, um zu entscheiden, ob und wie Du Dich der Diskussion über die Stammtischparole stellen willst.
Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, die ich Dir anhand der drei Beispiele zeige. Grundsätzlich kann man dabei unterscheiden, auf welcher Ebene des Gesprächs man reagieren möchte:
- Sachebene: Um welches Thema geht es? Was wird genau gesagt? Wie wird es begründet?
- Beziehungsebene: Was bedeutet die Aussage für eure Beziehung? Bist Du bereit, einen Konflikt auszutragen? Wie wichtig ist es Dir, die Beziehung zu schützen?
„Frauen können einfach keinen Fußball spielen.“
Diese Äußerung ist vielleicht noch die harmloseste von den dreien, weil es „nur“ um Fußball geht. Trotzdem ist sie sexistisch und Lena und ich würden sie beide nicht einfach so stehen lassen wollen.
Auf der Sachebene könntest Du…
- erstmal nachfragen: „Wie kommst Du darauf?“ oder „Warum glaubst Du das?“ So spielst Du den Ball wieder zurück – und forderst Begründungen ein. Vielleicht rudert die andere Person dann schon zurück. Vielleicht kommt ihr aber auch ins Gespräch und merkt, dass hinter der sehr pauschalen Aussage etwas steckt, worüber ihr reden könnt.
- Deine eigene Position darlegen: „Das sehe ich ganz anders. Ich habe selbst lange im Verein gespielt und wir waren oft besser als die gleichaltrigen Männer.“ – Nur so als Beispiel. Du kannst natürlich Deine eigenen Gründe anführen.
- differenzieren, also einem Teil der Aussage zustimmen und einem anderen Teil nicht: „Unser lokaler Verein ist vielleicht nicht so top, aber das kann man nicht verallgemeinern. Außerdem wird der Frauenfußball auch weniger gefördert, und Mädchen, die gerne Fußball spielen, werden weniger gefördert als Jungs.“
Auf der Beziehungsebene könntest Du
- hinhören, welches Gefühl dahintersteckt. „Das Thema scheint Dich gerade echt aufzuregen. Gibt es da einen bestimmten Anlass?“ So zeigst Du, dass Dir die Person am Herzen liegt und dass Du sie ernst nimmst. Trotzdem lässt Du die Aussage nicht einfach stehen, und kannst Dich im weiteren Gespräch auch noch inhaltlich davon abgrenzen. Pluspunkt: Wenn ihr Glück habt, kommt ihr auch hier dem dahinterliegenden Problem auf die Spur.
- einen Perspektivwechsel einfordern: „Stell Dir vor, Dir würde jemand einfach mal so pauschal den Fußball absprechen!“
- die Beziehung schützen, indem Du nicht darauf eingehst: „Ach Lena, lass uns heute nicht über Fußball diskutieren. Ich mag heute einfach nicht streiten.“
- Deine eigenen Gefühle zum Thema machen und so Deine Betroffenheit verbalisieren: „Ich kann es nicht glauben, dass du so über den Frauenfußball herziehst! Das hätte ich nicht von Dir gedacht.“
„Wir sind doch hier nicht das Sozialamt der Welt.“
Diesen Satz finden Lena und ich ganz besonders unangenehm. Er klingt, als würde sich jemand über die Aufnahme von Geflüchteten beschweren, könnte aber auch pauschal gegen Wirtschaftshilfen an andere Länder gerichtet sein. Auf jeden Fall ist das Schema „wir gegen die anderen“ sehr präsent.
Auf der Sachebene könntest Du…
- Sachlichkeit einfordern und nachfragen: „Das klingt aber sehr provokant. Was genau meinst Du denn damit? Wer ist wir und warum sind wir das Sozialamt? Und für wen?“ Wenn Du in die Diskussion gehen willst, empfehle ich Dir das als ersten Schritt, damit klar wird, worum es überhaupt geht.
- Deinen Standpunkt klarmachen: „Ich bin nicht der Meinung, dass wir zu viel an andere Länder abgeben.“ oder „Ich finde es gut, dass wir Menschen auf der Flucht aufnehmen.“
- eigenen Fakten und Argumente anbringen – wenn Du sie parat hast. Wenn nicht, kannst Du Deine Zweifel zum Ausdruck bringen.
- differenzieren: „Ich denke auch, dass nicht alle Gelder in der Gesellschaft richtig verteilt werden. Aber das gegen Geflüchtete zu wenden, finde ich nicht richtig.“
Auf der Beziehungsebene könntest Du…
- Deine Betroffenheit verbalisieren: „Ich bin schockiert, dass Du so etwas sagst.“
- Das Gespräch beenden oder sogar Dein Hausrecht wahrnehmen: „Ich höre mir das nicht mehr länger an.“ oder „Ich möchte solche Aussagen hier nicht hören. Bitte lass das oder geh.“
Das Gespräch zu beenden ist eine heftige Intervention – ein letztes Mittel. Trotzdem finden wir es wichtig, diese Möglichkeit anzusprechen. Ich selber habe so eine Situation einmal erlebt. In einem Gespräch mit einem Freund wurde ich so wütend, dass ich den Raum verlassen habe.
Das hat unsere Beziehung natürlich belastet! Aber es war auch ein klares Signal: Achtung, wenn wir das nicht klären, können wir nicht mehr befreundet sein. Wir haben dann später noch einmal darüber gesprochen, als wir uns etwas beruhigt hatten. Tatsächlich waren unsere Positionen gar nicht so unvereinbar und wir konnten den Konflikt beilegen.
„Sie sind doch auch von der Lügenpresse verseucht.“
Hier hatte ich in der Podcastfolge einen kurzen Moment der Sprachlosigkeit. Mein erster Impuls zu diesem Satz war: Das Wort „Lügenpresse“ mag ich überhaupt nicht! Es klingt nach Verschwörungstheorie, ist emotional aufgeladen und ich weiß nicht so hundertprozentig, was damit gemeint ist.
Das wäre schon eine Möglichkeit, in die Diskussion einzusteigen!
Außerdem könntest Du auf der Sachebene:
- nachfragen: „Und was ist das Ihrer Meinung nach, die Lügenpresse?“ oder „Was genau stört Sie denn jetzt an meiner Aussage?“
- Wenn ihr tatsächlich in eine Diskussion einsteigt, zum Beispiel über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, kannst Du Belege einfordern: „Auf welche Quellen beziehen Sie sich da? Haben Sie Belege dafür?“
- Deinen Standpunkt klarmachen: „Ich sehe das anders. Die öffentlichen Rundfunksender machen eine wichtige Arbeit und gehören aus meiner Sicht immer noch zu den zuverlässigsten Quellen.“
- differenzieren: „Natürlich sind die Öffentlich-rechtlichen nicht neutral. Sie entscheiden, welche Themen Aufmerksamkeit bekommen und welche nicht, und diese Entscheidungen kann man kritisieren. Aber dass sie alles komplett verdrehen und gar nicht mehr vertrauenswürdig sind, halte ich für übertrieben.“
Standpunkt klarmachen ist wichtiger als überzeugen
Grundsätzlich darfst Du Dich in solchen Diskussionen von dem Anspruch befreien, dass Du jemanden überzeugen musst. Das setzt nämlich voraus, dass Dein Gegenüber bereit ist, sich auf Deine Argumente einzulassen. Gerade bei Stammtischparolen gibt es diese Bereitschaft oft nicht, deshalb ist es viel wichtiger, dass Du deutlich machst, wovon Du überzeugt bist.
Lena erzählt in der Podcastfolge, wie sie zum ersten Mal mit genderneutraler Sprache konfrontiert wurde. Im ersten Moment fand sie es komisch, dann hat sie nachgefragt und sich das Konzept erklären lassen. Danach hat sie noch mehrere Wochen darüber nachgedacht, bevor sie sich entschieden hat, es zu versuchen.
Du siehst: eine Einstellung zu verändern kann ein langer und intensiver Prozess sein. Ein Impuls von außen kann helfen, aber die Entscheidung liegt bei der Person selbst.
Umgang mit Diskriminierung
Am Ende der Folge werfe ich noch eine Frage auf, die mich schon länger beschäftigt: Wenn ich eine diskriminierende Äußerung höre, soll ich sie dann einordnen, indem ich so etwas sage wie:
„Das fand ich rassistisch (oder sexistisch, ableistisch etc.)“?
Wir finden, ja! Es ist wichtig, auch als nicht betroffene, auf Diskriminierung aufmerksam zu machen. Die Absicht dahinter ist nicht, jemanden zu beschämen, sondern eher zu unterstützen.
Das kann natürlich mit einem Schreck einhergehen. „Was, ich? Rassistisch?!“ Da hilft es, wenn Du Dich auf ein ganz konkretes Verhalten oder eine Aussage beziehst und nicht auf die Person. Also nicht „Du Rassist!“, sondern „Das fand ich rassistisch.“
Wenn Du kannst, hilft es natürlich auch, dabei ruhig und sachlich zu bleiben. Das habe ich selber schon einmal erlebt – bei einem Gespräch unter Freund*innen sagte jemand ganz unaufgeregt, „das fand ich rassistisch.“ Ich war beeindruckt von ihrem Mut, aber auch von der Reaktion der Gruppe: kurzes Innehalten, klären, warum die Aussage nicht ging, dann ein „oh, ja, stimmt,“ und der Entschluss, in Zukunft darauf zu achten.
Wenn Du wütend bist…
Ich muss aber auch dazusagen: in der Situation, die ich erlebt habe, war niemand selbst von der diskriminierenden Aussage betroffen. Deshalb konnte meine Freundin so ruhig und gelassen darauf hinweisen.
Was wäre also, wenn jemand nicht sachlich und ruhig, sondern wutentbrannt auf eine diskriminierende Aussage aufmerksam macht? Ich habe das selber noch nicht erlebt, deshalb weiß ich nicht, wie gut es mir im Ernstfall gelingen würde. Aber mein Anspruch ist: halte es aus. Nimm es ernst und hör zu.
In einer anderen Situation würde ich vielleicht sagen, „hey, sprich nicht so mit mir, lass uns das sachlich klären.“ Hier nicht. Ich bin nämlich der Meinung, dass es absolut berechtigt ist, auf Diskriminierung mit Wut zu reagieren. Wut darf Raum einnehmen. Dann kann sie ein echter Motor für Veränderung sein.
Wenn Dich das Thema interessiert, hör doch mal in Folge #005 rein, da geht es um Gefühle in der Kommunikation.
Wenn Du Dich allein fühlst…
Und wenn ich gerne etwas sagen würde, aber das Gefühl habe, dass ich mit meiner Meinung ganz allein dastehe? – Diese Frage wirft Lena am Ende noch auf.
Lass uns kurz unterscheiden: Fühlst Du Dich allein, weil Du die Haltung der anderen kennst (oder vermutest) und Dich bei ihnen nicht sicher fühlst? Dann gibt Deiner Sicherheit die oberste Priorität.
Aber wenn Du Dich allein fühlst, weil niemand sonst etwas sagt, denk nochmal an die rhetorische Aphasie. Vielleicht geht es den anderen ja ganz genau so, und alle warten darauf, dass sich endlich jemand traut etwas zu sagen. Es braucht diese Mutigen, die es schaffen, die Sprachlosigkeit zu durchbrechen!
Wenn Du Dir unsicher bist, kannst Du Dir auch bewusst Verbündete suchen. Zum Beispiel, indem Du auf Einzelne zugehst und sie fragst, was sie über die Äußerung denken und ob sie Dich unterstützen würden, wenn Du es (im Nachhinein oder bei weiteren Stammtischparolen) ansprichst.
Oder Du sprichst Deinen Gedanken aus: „Ich finde diese Aussage nicht ok. Bin ich die einzige, der das so geht?“
Atmen. Hilft immer.
Und wenn Du spürst, dass Du doch in der Schockstarre landest: Atme. Ein und auch wieder aus. Wir neigen nämlich dazu, in solchen Blockaddezuständen die Luft anzuhalten, und mit Atmen geht alles besser.
Welche Erfahrungen hast du mit Stammtischparolen gemacht? Welche Fragen hast Du noch dazu? Schreib es mir in die Kommentare.
Bis bald
Deine Paula
Quellen:
Lepschy, Annette: Kann man populistischen Äußerungen mit kooperativer Rhetorik begegnen? In: Pabst-Weinschenk, Marita (Hrsg.), Kooperative Rhetorik. Theorie und Praxis. Sprache und Sprechen 51, Hohengehren 2019, S. 29-47.
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