Als Kind hatte ich so viele Ideen, was ich mal werden wollte. Ich erinnere mich nicht mehr an alle. Eine Zeitlang habe ich von einem Hof mit ganz vielen Tieren geträumt. Dann wollte ich im Wald leben, fernab der Zivilisation. Dass ich etwas mit Kommunikation machen würde, hätte ich eher nicht gedacht. Aber dass Sprache und Sprechen mal eine besondere Rolle spielen würden, darauf gab es schon ein paar Hinweise.
6. Dezember 1991 – Es ist Nikolaustag. In Bremen ist es Tradition, dass die Kinder durch die Geschäfte ziehen, ein Gedicht aufsagen und dafür Süßigkeiten bekommen. Da will ich (4 Jahre) natürlich mitmachen. Ich spaziere mit meiner Mama in die Apotheke um die Ecke und sage: „Ding dong.“ Dann halte ich erwartungsvoll meinen Beutel auf. Es muss ausdrucksvoll gewesen sein, denn ich kriege die ersehnten Süßigkeiten. Meine Mama sagt, dass mir das Nikolauslaufen auch in den Folgejahren Spaß gemacht hat – vor allem, weil ich dann Gedichte aufsagen durfte.
Irgendwann im Jahr 2000 – In der Schule bin ich ziemlich zurückhaltend. Mündlich immer 2 Noten schlechter als schriftlich. Ich würde mich niemals freiwillig dafür melden, aber als ich gebeten werde, vor der Klasse ein Gedicht vorzutragen, sagt mein Deutschlehrer: „Du hast so eine Art zu reden, dass man einfach an deinen Lippen hängt.“ Ich hätte es damals nicht zugegeben, aber das Vortragen hat mir Spaß gemacht. Insgeheim habe ich mich über die Aufforderung gefreut.
Herbst 2003 – Ich habe eine Anzeige entdeckt: offene Theaterwerkstatt. Es reizt mich, aber ganz allein an einen fremden Ort, zu einer fremden Gruppe gehen? Und da Theater spielen? Definitiv außerhalb meiner Komfortzone. Ich drehe vor der Tür ab und gehe eine Runde über den Jahrmarkt. Ja, der war zufällig genau daneben 🙂 Dann fasse ich mir ein Herz und gehe rein. In der Freiraum-Gruppe von Ruth mache ich meine ersten Schritte auf der Bühne, die fortan zu meinem Leben dazugehört.
Winter 2005 – Ich ziehe zum Studieren nach Göttingen. Aufregend! Ich komme ganz gut klar und stürze mich in viele neue Abenteuer. Nur in der Lateinvorlesung verschlägt es mir die Sprache. Ich habe Angst zu sprechen und wenn ich es doch tue, komme ich ins Stocken. Das verunsichert mich. So kenne ich das nicht, denn meine Zurückhaltung in der Schule war immer freiwillig.
Sommer 2006 – Mein erstes Seminar in der Sprecherziehung. Es heißt „Balladen sprechen“ und macht mir einen riesen Spaß. Dann stelle ich fest: Da sind Leute, die so eine Ausbildung machen. Sie beschäftigen sich mit Sprechen und Kommunikation. Cool! Das will ich auch. Ich fange mit der Ausbildung zur Sprecherzieherin an und es fühlt sich an, als würde meine Welt wieder komplett werden. Hier darf alles sein: Körper, Kopf, Gefühle. Alles hat Raum und ist wichtig. Ganz anders als in der Uni. Hier gewinne ich Selbstvertrauen und Mut.
Frühling 2007 – Ich spiele in meinem ersten Theaterstück mit. Im studentischen Theater im OP gibt es einen Regiekurs. Und dafür werden Schauspieler*innen gesucht. Ich weiß auf Anhieb: das will ich. Meine Ängste treten plötzlich in den Hintergrund. Ich bewerbe mich und bekomme genau die Rolle, die ich mir gewünscht habe. Ab jetzt werde ich viel Zeit im ThOP verbringen. Wenn Du mehr über meinen Bühnen-Geschichte wissen willst, schau doch mal hier vorbei.
Winter 2010 – Nach meinem Bachelor gehe ich nach Halle (Saale). Ich will mich voll und ganz dem Sprechen widmen. Leider ist der Masterstudiengang „Sprechwissenschaft“ viel theoretischer als ich dachte. Ich finde keine Freund*innen und fühle mich nicht wohl. Die Stadt gefällt mir zwar, aber eine Perspektive habe ich hier nicht. Nach einem Semester breche ich ab.
Frühling 2011 – Mein Plan B ist Münster. Dort kann ich meine Ausbildung zur Sprecherzieherin fortsetzen. Außerdem gibt es einen Master, der mich interessiert. Also alles wie vorher? Der verfehlte Start in Halle verfolgt mich noch eine Weile. Dafür gibt es hier viele Möglichkeiten, in die berufliche Tätigkeit rund um das Sprechen reinzuschnuppern. Ich nehme an Lesungen teil und gebe erste Seminare.
Herbst 2018 – Ich habe meinen Abschluss in der Tasche. Master Kulturpoetik und Sprecherzieherin DGSS. Nur habe ich keine Ahnung, was ich machen will. Ich hadere mit meinen Kommunikationsseminaren. Sie strengen mich extrem an und ich ärgere mich über Teilnehmer*innen, die manipulative Techniken lernen wollen. Ich spüre keine Motivation und weiß gar nicht mehr, warum ich das mache. Also lege ich die Seminartätigkeit auf Eis und bewerbe mich in anderen Bereichen.
April 2019-April 2021 – Ich schlage mich mit Gelegenheitsjobs durch. Brötchen verkaufen, Gäste durch Museen führen und Theaterprojekte organisieren. Und ich beschäftige mich mit mir. Reflektiere, schreibe auf, merke, woher mein Unbehagen mit den Kommunikationsseminaren kommt: Als introvertierte, manchmal schüchterne Person fühle ich mich fehl am Platz. Nie genug. Aber muss das so sein? Ich glaube nicht!
Mai 2021 – Ich positioniere mich neu. Ich möchte wieder mit Kommunikation arbeiten, aber anders. Möchte stillen und zurückhaltenden Menschen Mut machen. Sie bestärken und den Blick auf ihre besonderen Stärken lenken. Meine Kommunikation soll respektvoll und werteorientiert sein. Anstelle des oft missverstandenen Begriffs „Sprecherzieherin“ entscheide ich mich für die Berufsbezeichnung „Kommunikationspädagogin“. Ab Mai 2021 bin ich Vollzeit selbstständig. Ein neues Abenteuer beginnt!
Inzwischen habe ich die Berufsbezeichnung „Sprechtrainerin“ gewählt, um alle meine Themen unter einen begrifflichen Hut zu bekommen: Sprechen und Kommunikation für introvertierte Selbstständige, Sprechtraining für die Bühne und Sprechtraining für angehende Sprecher*innen.
Ich stehe im Rahmen von Lesungen selbst auf der Bühne, bin Ensemblemitglied bei Theater en face und spreche Hörbücher für die Westdeutsche Blindenhörbücherei.
Dabei denke ich immer wieder: „Ich bin genau richtig hier!“ Und dafür bin ich wirklich dankbar.
Vielen Dank für diesen interessanten Einblick, liebe Paula. Den Brauch, den Ihr am Nikolaustag habt, hatten wir in Schwaben am Rosenmontag. Ich habe es geliebt, obwohl ich auch sehe schüchtern war und mich in der Schule nie gemeldet hatte.
Ich wollte immer Kommunikationstrainerin werden, weil für mich Kommunikation ein Schlüssel zu ganz vielem war. Über Deinen Weg auf die Idee zu kommen, finde ich superspannend und ich kann mir vorstellen, wie erfüllend diese Aufgabe ist. Was ich klasse finde (auch fürs Selbstbewusstsein), ist Improtheater, aber ich habe das immer nur in kurzen Workshops gemacht.
Nochmal Danke und liebe Grüße aus München von Marita
Liebe Marita,
vielen Dank für diese schöne Rückmeldung!
Das wusste ich gar nicht, dass es diesen Brauch auch zu Rosenmontag gibt. Ich finde es total spannend, dass Du Dich auch dazu hingezogen fühltest, und auch zur Kommunikation. Sie ist ein Schlüssel zu ganz vielem – ja das war für mich ganz genauso 😊
Das mit dem Improtheater kann ich mir gut vorstellen, ich liebe nämlich Theaterspiele. Impro habe ich bisher aber auch nur im Rahmen von Workshops oder einzelnen Übungen ausprobiert.
Deinen „Wie ich wurde, was ich bin“ Artikel habe ich übrigens auch sehr gerne gelesen 😊
Liebe Grüße
Paula
Liebe Paula,
Deine Stationen sind sehr interessant und bewegt. Es freut mich, dass Du durch einiges „durchgegagen“ bist und nun Deine Berufung gefunden hast! Toll!
Liebe Stefanie,
vielen Dank! Ja, manches ist mir auch erst beim Schreiben bewusst geworden, zum Beispiel die Kontinuität beim Gedichte sprechen 🙂
Viele liebe Grüße
Paula
Liebe Paula,
die Bezeichnung „Kommunikationspädagogin“ finde ich auch viel schöner als „Sprecherzieherin“ (hier zieht sich in mir alles zusammen).
Interessant finde ich, wie du in Göttingen deine Unbekanntheit genutzt hast, um dich neu zu definieren. Diesen Vorteil habe ich damals im Studium auch für mich genutzt. Ich dachte mir: „Hier kennt dich niemand. Du kannst komplett von vorn anfangen und einfach mal alles anders machen als sonst.“ 😄
Alles Liebe
Anett
Liebe Anett,
vielen Dank für Deinen Kommentar, und besonders für das Feedback zu meiner Berufsbezeichnung! Das ist so wertvoll zu wissen.
Ja, die Unbekanntheit kann wirklich befreiend sein. Dann muss ich micht nicht fragen, ob vielleicht jemand überrascht oder verwirrt ist, wenn ich mich anders zeige als sonst. Spannend dass Du das auch schon für Dich genutzt hast!
Viele liebe Grüße
Paula
Sehr 🥰 schön! Lieben Gruß Angelika
Danke, liebe Angelika! Wie schön, dass Du vorbeigeschaut hast 😊
Danke fürs teilen deiner Lebensstationen und viel Freude bei jedem neuen Schritt ツ
Danke, liebe Marion!