„Das war ja beeindruckend, wie ausdrucksstark Sie auf der Bühne agiert haben. Aber ganz zum Schluss, beim Applaus, da waren Sie dann wieder so, wie ich Sie aus dem Seminar kenne.“ – Das hat mein Lateinprofessor zu mir gesagt, nachdem er mich auf der Bühne gesehen hat. Spannend, oder? 2007 war das, da hatte ich meine allererste Rolle in einer studentischen Theaterproduktion.
Offenbar hat sich mein Auftreten im Seminar von dem auf der Bühne unterschieden. Auf den ersten Blick ist das auch logisch: ich spielte ja schließlich eine Rolle. Aber ich glaube, da ist noch mehr. Die Bühne gibt mir nämlich Sicherheit. Das war damals schon so, als es mir noch richtig schwer fiel, mich in der Uni zu Wort zu melden.
Die Bühne kommt unseren introvertierten Bedürfnissen entgegen
Wenn ich irgendwo erwähne, dass ich introvertiert bin UND auf die Bühne gehe, dann ernte ich oft erstmal überraschte Blicke. Dabei habe ich schon von einigen anderen Introvertierten gehört, dass es ihnen ähnlich geht. Einen Bühnenauftritt oder – durchaus vergleichbar – einen Vortrag vor Publikum empfinden sie sogar als angenehmer als beispielsweise eine Diskussion oder ein Gespräch. Auch wenn es aufregend ist, sich vor einem Publikum zu äußern – irgendwie scheint das für uns nicht nur Nachteile zu haben. Deshalb gehe ich der Sache jetzt nach und nenne Dir drei Gründe, warum die Bühne unseren introvertierten Bedürfnissen entgegenkommt.
1. Mir wird zugehört
Auf der Bühne ist von vornherein klar: wer da drauf steht, spricht. Die anderen hören zu. Das ist wie ein Ritual, eine ungeschriebene Regel. Dadurch wird mir einiges an Gedanken erspart:
- Soll ich jetzt sprechen?
- Ist das, was ich sagen will, wirklich so wichtig? Interessiert das hier jemanden?
- Passt das gerade zum Thema, über das gesprochen wird?
Ich muss auch nicht erst auf mich aufmerksam machen. Das Rederecht erhalte ich einfach dadurch, dass ich die Bühne betrete. Und ganz wichtig: ich behalte es auch! Ich werde nicht unterbrochen und kann meine Gedanken in aller Ruhe entwickeln.
Auf diese Weise gibt mir die Bühne einen Raum. Einen Raum, der für mich ist, und in dem ich mich ganz und gar auf meine Botschaft konzentrieren kann. Das empfinde ich als große Entlastung. Es kommt meinem Bedürfnis nach Ruhe und Fokus entgegen.
2. Ich kann mich vorbereiten
Wenn ich vor Publikum spreche, habe ich in aller Regel Zeit, um mich vorzubereiten. Ich kann mir genau überlegen, was ich bei meinen Zuhörer*innen erreichen will und wie ich das schaffe.
Einen Vortrag kann ich 100x durchgehen, üben und überarbeiten. Ein Theaterstück wird in der Regel wochen- wenn nicht monatelang geprobt, immer und immer wieder. Am Ende wissen alle Beteiligten ganz genau, was sie zu tun haben.
Sogar auf spontane Momente kann ich mich in einem gewissen Maße vorbereiten. Wenn ich zum Beispiel nach einem Vortrag die Fragen des Publikums beantworten will, kann ich mir überlegen, welche Fragen kommen könnten, und wie ich reagiere, wenn ich mal eine Frage nicht beantworten kann. Das gibt mir eine Menge Sicherheit!
3. Ich zeige etwas von mir
Wenn ich einen Vortrag halte, spreche ich vielleicht über ein Thema, das mir wichtig ist. Ich habe einen ganz speziellen Blick auf mein Thema und lade mein Publikum dazu ein, es aus diesem Blickwinkel zu betrachten. So lasse ich die Zuhörer*innen an meiner inneren Welt teilhaben.
Und wie war das bei meiner Theateraufführung? Indem ich in eine Rolle schlüpfte, konnte ich Seiten von mir zeigen, die sonst nicht so zum Vorschein kamen. Ich habe laut geschrien und starke Gefühle gezeigt. Ich war sogar richtig aggressiv. Die Bühne gibt mir dafür einen geschützen Rahmen. Was ich hier tue, hat keine direkten Auswirkungen. Es tut niemandem weh, denn es ist verabredet, und ich werde auch nicht komisch angeguckt, weil die Leute in meinem Umfeld mich so nicht kennen. Deshalb fühle ich mich auf der Bühne oft frei und lebendig.
Fazit: Intro-Bedürfnisse Ruhe, Sicherheit, Fokus und Verbindung
Eine Bühne zu betreten, zu einem Publikum zu sprechen – das ist vielleicht nicht das erste, was Dir zu den Worten „Ruhe“ oder „Sicherheit“ einfällt. Auch für mich ist es oft aufregend, vor einer Gruppe zu sprechen, besonders wenn ich meine Zuhörer*innen noch nicht kenne. Oder wenn ich generell mit irgendetwas – dem Ort, dem Thema, meiner Rolle, der Technik – noch nicht so vertraut bin. Und doch habe ich gemerkt, dass ich es mag, vor Publikum zu sprechen, und dass ich mich dann oft sicherer und selbstbewusster fühle, als in einem (scheinbar) lockeren Gespräch.
Hintergrund sind die drei Vorteile, die ich Dir beschrieben habe. Sie kommen meinen Bedürfnissen nach Ruhe, Sicherheit und Fokus entgegen, weil es keine Unterbrechungen gibt, und weil ich mir eine ganze Reihe von Fragen nicht mehr stellen muss. So kann ich mich ganz auf meinen Vortrag (oder meine Performance) konzentrieren.
Die Bühne gibt mir außerdem die Möglichkeit, eine Verbindung mit meinem Publikum einzugehen – sei es nun in der Auseinandersetzung mit einem Thema oder in einer künstlerischen Darbietung. Ich zeige etwas von mir und ich bekomme auch etwas zurück, mindestens die konzentrierte Aufmerksamkeit meiner Zuhörer*innen. Meistens ist da aber noch mehr, zum Beispiel nonverbale Reaktionen, Fragen und Kommentare oder sogar Applaus. Diese Verbundenheit ist ein schönes Gefühl, für das ich die kurzfristige Aufregung in Kauf nehme.
Exkurs: Was meine ich genau mit Bühne?
Mit „Bühne“ meine ich einen Ort, an dem Menschen zusammenkommen und zwei verschiedene Rollen einnehmen. Die einen hören oder schauen zu, sie lassen sich darauf ein, was passiert. Diese Gruppe bildet das Publikum. Die anderen machen etwas. Sie sprechen oder tragen etwas vor, spielen, tanzen oder vollführen eine Aktion, also sind sie Referent*innen, Redner*innen, Sprecher*innen, Schauspieler*innen, vielleicht aber auch Musiker*innen oder Tänzer*innen. Wie Du siehst, schmeiße ich künstlerische und informative Vorträge einfach in einen Topf 😉
Natürlich gibt es auch Formen, die von dieser klaren Rollenverteilung abweichen. Theater zum Beispiel, bei dem die Unterscheidung zwischen Darsteller*innen und Publikum aufgelöst wird. Oder Vorträge mit Workshop- und Diskussionselementen. Für solche Mischformen gelten meine drei Gründe in abgeschwächter Form. Deshalb finde ich sie auch ein Stück schwerer.
Wenn Du aber eine klassische Bühnen- oder Vortragssituation vor Augen hast, dann kann ich mir gut vorstellen, dass sich das eine oder andere mit deiner Erfahrung decken wird.
Und Du?
Wie ist das bei Dir: Was bedeutet „Bühne“ für Dich? Kannst Du Dir vorstellen, als Introvertierte auf die Bühne zu gehen? Tust Du es vielleicht sogar schon? Ich freue mich riesig, wenn Du mir einen Kommentar dalässt.
Bid bald
Deine Paula
Ein genialer Blogpost, liebe Paula. Das würde ich alles genau so unterschreiben. Und es ergibt für mich so viel Sinn – denn ich stehe eigentlich auch gerne auf Bühnen. Und beim Lesen ist mir bewusst geworden, wie sehr ich das vermisse … Ich sollte wohl bald mal mein Instagram live angehen. 🙂
LG Mim
Danke, Mim, das freut mich so, dass Du Dich darin wiederfinden konntest! Ja, das Live ist im Grunde genommen eine virtuelle Bühne 😀 Ich wünsche Dir ganz viel Spaß dabei (und natürlich schaue ich auch gerne zu, wenn ich darf ☺).
Liebe Grüße
Paula